Sina Aebischer (*2000) lebt in Basel. Sie studiert Deutsch und Englisch an der Universität Basel. Sie arbeitet als Pilatesinstruktorin und schreibt für verschiedene Medien. Ihre Freizeit verbringt sie mit Lesen und Schreiben.
Im Dorf unserer Kindheit konnten wir alles sein, solange wir das Richtige sein wollten. Wir durften werden, wer wir sein wollten, durften tun, was wir tun wollten, solange es das war, was im Dorf als richtig galt. Die Alten schauten uns beim Aufwachsen zu und lächelten gutmütig, wenn wir mit unseren Fahrrädern durch die viel zu kurzen Strassen brausten. Unsere Vorbilder waren die coolen Jugendlichen, die, die vor dem Coop standen und rauchten, Zigarettenstummel zwischen die Lippen geklemmt noch ein Bier öffneten. Wir waren jung und fühlten uns frei, weil wir die Ränder des Dorfes noch nicht kannten, weil wir noch nicht wussten, dass nach dem Fluss und hinter den Feldern Orte warteten, die grösser waren, längere Strassen, andere Zukünfte. Ich hielt unsere Kindheit fest, verpackte sie jeden Abend in Worte, die ich mit Glitzerstiften in Notizbücher mit Pferden auf den Titelseiten schrieb. Ich beschönigte unsere Streitereien und romantisierte die langweiligen Nachmittage, die damals so viel länger waren als heute.
Und irgendwann haben wir mit dem Küssen anderer angefangen, weil es sonst nichts zu tun gab im Dorf. Aber wir mussten aufpassen dabei, zählen, damit es nicht zu viele wurden. Und es gab Regeln, die betrafen Herkunft und Geschlecht der Geküssten und die mit Nachnamen, die man nicht kannte im Dorf, kamen gar nicht erst in Frage. Und so langsam merkten wir, dass uns das Dorf nicht mehr ganz passte, eine alte Winterjacke, die an den Ärmeln etwas zu kurz, an den Schultern etwas zu eng, geworden war. Aber wir kannten nichts anderes und hielten uns aneinander fest, weil wir nicht wussten, was wir sonst tun sollten. Und ich schrieb das, was nicht passierte, weiterhin jeden Abend in meine Tagebücher, füllte Seite nach Seite mit Belanglosigkeiten, die sich damals anfühlten, als wären sie die grössten Geheimnisse, die ich je in mir tragen würde.
Es brauchte eine ganze Volljährigkeit, bis wir merkten, dass das Dorf nicht die einzige Zukunft sein musste. Bis wir merkten, dass es nach dem Fluss und hinter den Feldern weiter ging, dass Freiheit nicht in der Sicherheit unseres Dorfes zu finden war. Und auch das habe ich aufgeschrieben, die schmerzhaften Erkenntnisse. Die Abschiede. Und schliesslich das Rückkehren, die Besuche im Dorf, das sich nicht mehr wie ein Zuhause anfühlt. Und dass es dafür jetzt ein anderes Zuhause gibt, eines, das nicht ortsgebunden ist. Eines, das sich in einem Lächeln oder einer warmen Küche mit zufriedenen Gesichtern finden lässt.
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